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Giro Recon: Über die Schotterstraßen der Toskana zum Giro d’Italia

Ein Mittwochmorgen Ende Februar in der Nähe von Siena. Vor dem Hotel strömender Regen, drinnen entscheidet sich BORA - hansgrohe Sportdirektor Enrico Gasparotto für einen weiteren Espresso und verschiebt die Abfahrt zum Training um eine Stunde nach hinten. Der Regen soll dann weniger werden.

Lennard Kämna, Daniel Felipe Martínez, Mechaniker Mario Lexmüller und Enrico Gasparotto sind vor dem Klassiker Strade Bianche einige Tage früher in die Toskana gereist. Der Grund: die weißen Schotterstraßen der Toskana sind in diesem Jahr auch Teil des Giro d’Italia. Die 6. Etappe von Torre del Lago Puccini nach Rapolano Terme bietet mit drei Abschnitten auf den berüchtigten Schotterpisten ein Spektakel für die Fans. Für die Profis und deren Teams stellen die 11km Strade Bianche im Giro d’Italia eine Herausforderung dar - um am 9. Mai perfekt vorbereitet zu sein, sind die vier an diesem Mittwoch zwischen Opening Weekend und Strade Bianche in der Toskana unterwegs. 

 

 

 

 

Wie vom Wetterbericht versprochen lässt der Regen nach und erste Sonnenstrahlen erhellen die grünen Hügel.  Die beiden Profis kurbeln los, Gasparotto und Lexmüller folgen im Teamfahrzeug dahinter. 

 

 

 

Einige Wochen später, am 3. April, kollidiert Lennard Kämna während eines Höhentrainingslagers auf Teneriffa mit einem Auto und wird schwer verletzt. Mittlerweile  befindet er sich auf dem Weg der Besserung, eine Teilnahme am Giro d’Italia 2024 aber ist für den Fischerhuder leider ausgeschlossen. 

 

 

 

 

Dani Martínez:

„Es wird eine nervöse und stressige Etappe, ein Recon ist daher für uns sehr wichtig und aufschlussreich. Nicht nur die Sektoren und deren Beschaffenheit selbst, auch die Kilometer vor den Schotterpassagen müssen wir uns gut einprägen. 

Die Etappe wird mit Sicherheit sehr hart. Neben den Beinen braucht es auch eine Portion Glück. Ein Defekt im falschen Moment kann dich aus dem Rennen um die Gesamtwertung werfen. Du gewinnst den Giro nicht auf dieser Etappe, kannst ihn aber definitiv verlieren - daher bin ich froh, einige Abschnitte besichtigt zu haben. 

Auch das Bike Set-up werden wir an diesem Tag etwas anpassen. Wir haben jetzt Material getestet und Erfahrungen sammeln können.“

 

 

 

Mario Lexmüller, Mechaniker: 

„Beim Recon können die Fahrer verschiedene Set-ups testen und uns Mechanikern dann direkt Rückmeldung zu Material und Reifendruck geben. 

Doppeltes Lenkerband oder spezielle Sättel, wie wir es für Paris-Roubaix verwenden, werden wir hier nicht benötigen. Im Vergleich zu unserem normalen Set-up wird aus technischer Sicht der Reifendruck an diesem Tag den größten Unterschied darstellen. Die Balance zwischen Komfort und Grip auf dem Schotter und bestmöglicher Rolleigenschaft auf dem Asphalt ist entscheidend. Generell bewegen wir uns beim Reifendruck im Bereich von 5-7 bar. Abhängig vom Gewicht des Fahrers, dem Wetter und der Beschaffenheit des Schotters passen wir den Luftdruck im Reifen dann individuell an. Bei der Reifenbreite hat sich aus unserer Sicht die 28mm Variante unserer Specialized Pneus auf dem Schotter der Toskana bewährt."

 

 

 

 

Enrico Gasparotto, Sportlicher Leiter:

„Wir wollen Überraschungen vermeiden und perfekt vorbereitet in die Rundfahrt gehen. Nach der Streckenpräsentation einer Grand Tour sehe ich mir zuerst den gesamten Parcours an und bekomme so einen Überblick. Da ich viele Straßen in Italien mittlerweile sehr gut kenne, versuche ich dann im Detail herauszufinden, wo neue Abschnitte eingebaut wurden. Diese analysieren wir und entscheiden im Anschluss, ob wir zusammen mit den Fahrern einen Recon, also eine Streckenbesichtigung, durchführen. Speziell jene Etappen, die auf dem Papier nicht extrem schwer aussehen, können für Chaos und Überraschungen sorgen.“

 

 

 „Für uns war es wichtig zu sehen, wie viel Einfluss die drei Schotterpassagen auf die gesamte Etappe und speziell auf das Finale haben können.“

 

 

„Nach den Gravel-Abschnitten folgen im Finale die entscheidenden, kurzen Anstiege. Gravel sorgt oft für Chaos. Chaos wollen wir vor dem Finale definitiv vermeiden. Die Abschnitte sind relativ kurz, trotzdem wird es eine ziemlich harte Etappe, auf der viel passieren kann. Hier heißt es ganz klar: konzentrieren und auf alle Szenarien vorbereitet sein. Die Etappe ist aber sicher nicht entscheidend für die Gesamtwertung.“ 

 

 

„Den Recon haben wir erledigt. Für mich als Sportdirektor gilt jetzt: Rennverlauf beobachten, mit unseren Zielen abgleichen und dann eine Strategie für den Tag in der Toskana erarbeiten.“ 

 

 

 

Gegenüber der Gelateria in Rapolano Terme wird am 9. Mai die Ziellinie sein. Für Lennard Kämna und Dani Martínez geht es an diesem Tag im Februar noch ein paar Kilometer weiter bis zu einem Hotel. Heiße Dusche, Mittagessen, Entspannung. In der Hotellobby schreibt Enrico Gasparotto Notizen nieder und markiert neuralgische Punkte der Strecke in der digitalen Etappen-Karte Veloviewer. Draußen begutachtet Mario Lexmüller die vom nassen Toskana-Schotter verdreckten Räder und prüft den Luftdruck. 

Hinter „Giro Gravel Recon“ kann ein Haken gesetzt werden. Ein kleiner, aber wichtiger Teil des großen Giro-Vorbereitungs-Puzzles. 

 

 

 

 

 

© Anderl Hartmann